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Als Messerschmitts gegen Messerschmitts kämpften

Am 4. Juni 1940 und erneut am 8. Juni trafen deutsche Bf-110 auf Schweizer Bf-109. Fünf der zweimotorigen Zerstörer wurden abgeschossen. Dann gab die Regierung der Eidgenossenschaft klein bei. Joseph Goebbels war empört. In der Nacht vom 6. auf den 7. Juni 1940 notierte der Propagandaminister in seine Tagebuchkladde zunächst: „Das neutrale Ausland frisst uns aus der Hand.“ Dann fügte er allerdings hinzu: „Bloß die Schweiz bleibt unentwegt frech, hat uns zwei Flugzeuge heruntergeschossen, dafür haben wir ihr vier erledigt und eine scharfe Note hat sie außerdem noch bekommen.“ Warum war der Hitler-Vertraute so erregt? Außerhalb der Schweiz ist die Episode so gut wie unbekannt, dabei waren die Ereignisse von Anfang Juni 1940 relevant, ja prägend für das weitere Verhalten der Eidgenossenschaft im Zweiten Weltkrieg. Am 10. Mai 1940 hatte die Wehrmacht ihren Angriff auf Frankreich begonnen – unter Missachtung der ausdrücklich erklärten Neutralität der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs. Auch in der gleichfalls neutralen Schweiz löste der Angriff Ängste aus, denn was sollte die Wehrmacht davon abhalten, nicht nur im Norden die französische Maginotlinie zu umgehen, sondern ebenso im Süden über den Kanton Basel-Land? Aus den nordschweizerischen Städten Basel, Bern und Zürich flohen viele Menschen in die Zentral- oder Westschweiz. General Henri Guisan, der Oberkommandierende der Schweizer Armee, sprach von einer „Welle der Panik“. In dieser Situation kam es im Luftraum zwischen Bern, Besançon und Mulhouse wiederholt zu Begegnungen deutscher und Schweizer Kampfmaschinen. Schon am 10. Mai schoss Leutnant Hans Thurnheer von der Fliegerstaffel 5 auf eine Heinkel He-111, die sich im Schweizer Luftraum befand und der Aufforderung zur Landung widersetzte. Wer zuerst schoss, blieb unklar. Diese erste Konfrontation blieb ohne Folgen. Am Abend desselben Freitags schossen dann Walo Hörning und Albert Ahl eine Dornier Do-17 ab; sie stürzte auf deutscher Seite der Grenze ab. Sechs Tage später verlor die Luftwaffe dann über der Nordwestschweiz eine Heinkel He-111; der Bomber stürzte in Kemleten nordöstlich von Zürich ab. Die Schweizer Fliegertruppe hatte im Frühsommer 1940 etwas mehr als 200 einsatzfähige Flugzeuge, davon nur knapp hundert einigermaßen moderne Jagdmaschinen, nämlich deutsche Messerschmitt Bf-109E und in Lizenz gefertigte französische Morane-Saunier D-3800 – die meisten davon allerdings ohne Funkgeräte. Derlei schreckte die deutsche Luftwaffe, die im Frankreich-Feldzug mehr als 3000 Maschinen einsetzen konnte, nicht ab. Am 1. Juni überflogen 36 He-111 des Kampfgeschwaders 53 die Nordwestschweiz. Zwei Schweizer Jagdflugzeuge, geflogen von dem Hauptmann Jean Roubaty und dem Leutnant Alfred Wachter, schossen gegen 16.20 Uhr einen dieser Bomber ab. Die Maschine stürzte bei Lignière im Kanton Neuenburg ab; die fünfköpfige Besatzung kam ums Leben. Eine gute Stunde später, gegen 17.40 Uhr, flog ein Verband von weiteren 24 He-111 über Schweizer Hoheitsgebiet. Abermals griff die schweizerische Luftverteidigung ein. Ein deutscher Bordfunker meldete seinen Kameraden: „Achtung, nicht schießen, es sind Messerschmitts, also eigener Jagdschutz!“ Erst als die fünf Schweizer Bf-109 das Feuer eröffneten, bemerkten die Deutschen ihren Fehler. Eine Heinkel wurde so schwer getroffen, dass sie im französischen Oltingen notlanden musste. Die Vorfälle häuften sich jetzt – am folgenden Tag konnte sich eine bereits über Frankreich getroffene He-111 zwar noch in Schweizer Luftraum retten, wurde aber hier von einer Patrouille Bf-109 angegriffen und zusätzlich beschädigt. Der Bomber machte bei Ursins im Kanton Waadt eine Bruchlandung. Hermann Göring tobte. Der Chef der Luftwaffe schickte am 4. Juni 1940 eine Strafexpedition über die Schweiz. 28 schwere Jagdmaschinen Bf-110 flogen über dem Neuenburger Jura im Kreis – eine bewusste Provokation. Insgesamt 16 Schweizer Kampfflugzeuge, meist Bf-109, aber auch einige D-3800, starteten, um den deutschen Verband abzufangen. Es kam zum Luftkampf, und zwar zum ersten Mal von Messerschmitts gegen Messerschmitts. Die Bf-110 erwies sich als deutlich unterlegen – sie war nicht wendig genug, um dem Feuer der Schweizer Bf-109 zu entgehen, und nicht schnell genug, um ihnen davonzufliegen. Über Frankreich war der zweimotorige Jäger den feindlichen Maschinen der Typen Morane-Saunier 406 (der französischen Originalversion des Schweizer Lizenzbaus D-3800) und Dewoitine D.520 noch überlegen gewesen; jetzt verkehrte sich das ins Gegenteil. Die Details des Luftkampfes sind nicht genau zu rekonstruieren; jedenfalls war am Abend des 4. Juni ein Schweizer Bf-109-Pilot tot, und zwei Bf-110 waren auf französischem Grund zerschellt. Berlin reagierte mit einer scharfen Protestnote, in der es hieß: „Die Reichsregierung erwartet, dass die Schweizer Regierung ihre förmliche Entschuldigung wegen dieser unerhörten Vorkommnisse ausspricht und dass sie den entstandenen Sach- und Personenschaden ersetzt. Im Übrigen behält sich die Reichsregierung zur Verhinderung derartiger Angriffsakte alles weitere vor.“ Doch am 6. Juni schoss diesmal die Schweizer Flak erneut ein deutsches Flugzeug ab, das den Luftraum verletzt hatte, und am 8. Juni kam es zu einer erneuten Konfrontation zwischen Bf-109 und Bf-110. Ein Verband der zweimotorigen Jäger griff eine Schweizer Aufklärungsmaschine vom veralteten Typ K+W C-35 an. Leutnant Rodolfo Meuli und Oberleutnant Emilio Gürtler hatten keine Chance. Doch dann stiegen 15 Jagdmaschinen auf, zum größten Teil Bf-109. In den folgenden Luftkämpfen schossen die Schweizer Messerschmitts drei Bf-110 ab – eine Katastrophe für Göring. Hitler nahm nun, nach – je nach Zählweise – neun bis elf verlorenen deutschen Maschinen, die Angelegenheit selbst in die Hand und drohte massiv. Die Schweiz knickte ein. Am 10. Juni 1940 wurden die Grenzüberwachungsflüge eingestellt, drei tagte später verbot Guisan aktive Luftkämpfe. Fremde Flugzeuge dürften nur noch in Notwehr angegriffen werden; unbedeutende Verletzungen des Luftraumes sollten gar nicht mehr gemeldet werden. Die 17 in der Schweiz internierten deutschen Piloten kamen frei – ein klarer Verstoß gegen die Haager Konvention von 1907, der zufolge ein neutrales Land fremde Truppen bis Kriegsende zu internieren hatte. Doch der deutsche Sieg über Frankreich, unerwartet schnell und unerwartet deutlich, war ein starkes Argument. Fortan fuhr die Schweiz eine zweifache Politik: Einerseits wurden (fast) alle Wünsche des Dritten Reiches erfüllt, andererseits ließ General Guisan in den Hochalpen eine Festung errichten, das Réduit. Hierher sollte sich im Falle einer deutschen Invasion die Schweizer Armee zurückziehen und Widerstand leisten. Dazu kam es nie.

Quelle: Welt.de, Johann Althaus

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